Letzte Aktualisierung: 28. Oktober 2008, PK

[Zurück zur Bibliographie von Peter Knauer]
  

Peter Knauer SJ

BEWUSSTSEINSVERFASSUNG, GESELLSCHAFTSVERFASSUNG UND GESCHRIEBENE VERFASSUNG 

IN DER GESELLSCHAFT JESU:

Das innere Gesetz, unsere Weise im Herrn voranzugehen und die Satzungen


Erschienen in:

Die Satzungen der Gesellschaft Jesu – Das »innere Gesetz«, »unsere Weise voranzugehen« und die »Satzungen«, in: Ignatius von Loyola und die Gesellschaft Jesu 1491–1556, hrsg. von Andreas Falkner und Paul Imhof, Echter Verlag Würzburg 1990, 379384.

ZUSAMMENFASSUNG:
In der Verfassungstheorie unterscheidet man zwischen Bewusstseinsverfassung, Gesellschaftsverfassung und geschriebener Verfassung. Dem entsprechen in der Teminologie der Satzungen der Gesellschaft Jesu die Begriffe "inneres Gesetz", "unsere Weise im Herrn voranzugehen" und die "Satzungen".


In der Verfassungstheorie gibt es die Unterscheidung zwischen »Bewußtseinsverfassung«, »Gesellschaftsverfassung« und »geschriebener Verfassung«. Das den drei Begriffen gemeinsame Wort »Verfassung« meint die alle einzelnen Entscheidungen und Handlungen, welche das Zusammenleben betreffen, ermöglichende und tragende umfassende Grundhaltung und -ordnung. »Verfassung« will gemeinschaftliche zukünftige Entscheidungen nicht vorwegnehmen, sondern durch verläßliche Rahmenbedingungen ermöglichen. Sie ist der Grammatik einer Sprache vergleichbar, ohne welche die Sprache nicht zur Klarheit kommt.

    Mit »Bewußtseinsverfassung« ist die Weise gemeint, wie im Bewußtsein der einzelnen ihr Zusammenleben mit anderen Menschen verfaßt ist, also etwa welche Bedeutung anderen Menschen im Bewußtsein der einzelnen zukommt, wie sie darin gleichsam repräsentiert sind. Man kann das Bewußtsein eines jeden einzelnen Menschen als eine Art inneres Parlament verstehen, in dem die anderen Menschen in einer Weise repräsentiert sind, daß ihnen ein Mitspracherecht zukommt. »Gesellschaftsverfassung« wird daraufhin die grundlegende Weise genannt, wie das tatsächliche Zusammenleben vor sich geht. Sie ist die Sache, um die es eigentlich geht. Die »geschriebene Verfassung« schließlich ist als eine Hilfe zu verstehen, eine gewünschte »Gesellschaftsverfassung« durch die Einwirkung auf die »Bewußtseinsverfassung« der einzelnen fortzuschreiben und verläßlich zu machen.1

1    Vgl. zu dieser Terminologie Dieter Suhr, Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung, Berlin 1975. Zur rechten Bewußtseinsverfassung gehört die »aufrechte« im Unterschied zur »verkehrten« Repräsentation anderer Menschen. »Aufrecht« repräsentiert sind andere Menschen im Bewußtsein, wenn man sich gemäß Röm 12,15 an ihrer Freude mitfreut und an ihrem Leid mitleidet; »verkehrt« sind sie repräsentiert, wenn man sich über ihre Freude ärgert und über ihr Leid triumphiert (vgl. ebd. 292–296).

    Zwischen »Bewußtseinsverfassung«, »Gesellschaftsverfassung« und »geschriebener Verfassung« besteht also Wechselwirkung. Ohne wenigstens einen Ansatz der rechten Bewußtseinsverfassung der einzelnen wird das tatsächliche Zusammenleben kaum gelingen, und die geschriebene Verfassung wird erst recht Papier bleiben. Aber wo das Verlangen nach einer Bewußtseinsverfassung besteht, in der die anderen Menschen aufrecht repräsentiert sind, kann die »geschriebene Verfassung« Informationen über die Wirklichkeit der »Gesellschaftsverfassung« bieten, die durch die Vermittlung des Bewußtseins in diese Wirklichkeit zu ihrer Förderung wieder eingespeist werden.

    Im »Vorwort zu den Satzungen« der Gesellschaft Jesu (Satzungen134) finden wir die dieser Terminologie entsprechenden Sachverhalte wieder. Da ist zum einen im Sinn der Bewußtseinsverfassung die Rede von dem »inneren Gesetz der Liebe und Güte, welches der Heilige Geist in die Herzen schreibt und einprägt«. Der Bewußtseinsverfassung entspricht als die Gesellschaftsverfassung der reale »heilige Dienst«, in dem die Gesellschaft Jesu von Gott bewahrt, geleitet und vorangeführt werden muß. Diese Gesellschaftsverfassung ist die grundlegende Weise, »gemäß unserem Institut auf dem begonnenen Weg des göttlichen Dienstes voranzugehen«.2 Die geschriebene Verfassung schließlich besteht in den »Satzungen« selbst, die als eine Hilfe für die Gesellschaftsverfassung gemeint sind.3 Die »Satzungen der Gesellschaft Jesu« und ihre Erläuterungen beziehen sich nach n. 136 »auf unveränderliche Dinge und müssen allgemein beachtet werden«. Deshalb kommt ihnen (und nicht nur der Formula Instituti) in der Gesellschaft Jesu tatsächlich der Rang einer geschriebenen Verfassung zu. Eine geschriebene Verfassung ist der Versuch, die prozeßhafte gesellschaftliche Situation in einer möglichst dauerhaften und sich selbst erfüllenden Weise zu definieren.4

2    In den Satzungen begegnet für die reale Gesellschaftsverfassung der Gesellschaft Jesu immer wieder der Ausdruck »unsere Weise, in unserem Herrn voranzugehen« oder auch »unsere Lebensweise« (vgl. Sa nn. 92 [Ex], 152 [I], 216 [II], 321, 398 [IV], 547, 589 [VI], 624 [VII], 680 [VIII]; zum Ausdruck »Lebensweise« vgl. Sa n. 527 [V], gleichbedeutend »Lebensordnung«, Sa n. 602 [VI].

3    Man könnte das Verhältnis »unserer Weise voranzugehen« zu den »Satzungen« mit dem Verhältnis von Tradition und Schrift in der Kirche vergleichen: Der Sinn der Schrift besteht in der Tradition als der realen Weitergabe des Glaubens. In der Tradition überliefert die Kirche »alles, was sie ist, alles, was sie glaubt« (Dei Verbum, 8,2). Demgegenüber wäre der Glaube selbst die »Bewußtseinsverfassung« der Glaubenden.

4    Vgl. Suhr, 234.  

I.  »Bewußtseinsverfassung«5 in der Gesellschaft Jesu: »das innere Gesetz«

Als Ignatius und seine Pariser Gefährten unterwegs nach Rom waren, um sich dem Papst zur Verfügung zu stellen, begannen sie, sich »die Gesellschaft Jesu« zu nennen. Nadal berichtet darüber: »Der Name ist "die Gesellschaft Jesu", und dieser Name wurde angenommen, bevor sie nach Rom kamen. Als sie unter sich besprachen, wie sie sich gegenüber jemandem nennen sollten, der sie fragen würde, was für eine diese ihre Gemeinschaft sei, die aus neun oder zehn Personen bestand, begannen sie damit, sich dem Gebet zu widmen und nachzudenken, welcher Name der angebrachteste wäre. Und angesichts dessen, daß sie untereinander kein Haupt hatten und keinen anderen Oberen als Jesus Christus, dem allein sie zu dienen wünschten, schien ihnen, sie sollten von demjenigen den Namen nehmen, den sie als Haupt hatten, und sich "die Gesellschaft Jesu" nennen.«6 So beginnt die Gruppe sich als Gruppe zu verstehen.

5    Die Übersetzung dieses Ausdrucks in andere Sprachen bereitet Schwierigkeiten; z. B. fr. »constitution mentale«? Man vergleiche damit den Ausdruck »mens ignatiana« bei Juan de Polanco, Chronicon 1554, n. 1272, und 1556, nn. 1867 und 1870.

6    Monumenta Ignatiana, Fontes Narrativi I, 283 (Nr. 86).

    Als dann in Rom selbst der Papst begann, die ersten von ihnen auszusenden, entstand für die Gefährten dieses Problem: »Müssen wir für jene, die dorthin aufbrechen, Sorge tragen, oder sie für uns, und sollen wir voneinander Kenntnis haben, oder sollen wir uns vielleicht um sie nicht mehr kümmern als um die, welche außerhalb der Gesellschaft sind?« Das Ergebnis ihrer Beratungen war: »Schließlich entschieden wir positiv: nachdem der gütigste und liebevollste Herr sich gewürdigt hat, uns so schwache Menschen und die wir aus so verschiedenen Gegenden und Sitten stammen, miteinander zu einigen und zu versammeln, daß wir die Einigung und Versammlung Gottes nicht spalten dürften, sondern eher von Tag zu Tag bestätigen und festigen müßten. Wir sollten zu einem Leib werden, und die einen sollten für die anderen Sorge tragen und um sie wissen zum größeren Gewinn für die Seelen.«7 Die Bewußtseinsverfassung der Mitglieder der Gruppe besteht hier in der Überzeugung, »Gottes Einigung und Versammlung« zu sein und deshalb für die ganze Gruppe und für ihre einzelnen Mitglieder Verantwortung tragen zu müssen.

7    Vgl. MHSI 63, Mon. Const. praevia, 3.

    Später in den Satzungen selbst findet diese Überzeugung der Gefährten, daß ihre Gemeinschaft von Gott zusammengeführt worden sei, ihren Ausdruck z. B. in der Einleitung zum zehnten Teil: »Weil die Gesellschaft, die nicht mit menschlichen Mitteln errichtet worden ist, mit ihnen weder bewahrt noch gemehrt werden kann, sondern nur durch die allmächtige Hand Christi unseres Gottes und Herrn ...« (Satzungen 812 [X]). Deshalb muß auch alles rechte Handeln von der Gemeinschaft mit Gott, die Ignatius »Vertrautheit mit Gott unserem Herrn« nennt (Satzungen 813 [X]), herkommen.

    Die Bewußtseinsverfassung gegenüber den einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft wird am prägnantesten in den Satzungen 250 (III), formuliert: »Sie sollen sich in allem darum bemühen und wünschen, den anderen den Vorrang zu geben, indem sie in ihrer Seele alle schätzen, als stünden sie über ihnen (como si les fuesen superiores = als wären sie für sie Obere [?]), und ihnen im Äußeren in religiöser Einfachheit und Schlichtheit die Ehrfurcht und Ehrerbietung erweisen, die der Stand eines jeden zuläßt, so daß sie, indem sie einander ansehen, in der Frömmigkeit wachsen und Gott unseren Herrn lobpreisen, den jeder im anderen als in seinem Bild wiederzuerkennen sich bemühen soll.«

    Während sonst in den Satzungen immer wieder darauf hingewiesen wird, daß der Obere an der Stelle Christi steht, wird hier als umfassendere Aussage formuliert, daß man überhaupt alle Mitbrüder als Christus ansehen soll. Dieses Verständnis ist eine Voraussetzung für den wahren Gehorsam, da dieser ja »nicht darauf sieht, wem man ihn leistet, sondern um wessentwillen man ihn leistet. Leistet man ihn allein um unseres Schöpfers und Herrn willen, so gehorcht man dem Herrn aller selbst. Deshalb darf man überhaupt nicht darauf sehen, ob er Koch des Hauses oder Hausoberer ist oder ob es dieser oder jener ist, der befiehlt. Denn man leistet ̵ wenn man es in gesundem Verständnis nimmt ̵nicht ihnen noch um ihretwillen irgendeinen Gehorsam, sondern allein Gott und allein um Gottes unseres Schöpfers und Herrn willen.« (Examen 84). Auf der anderen Seite wird in dem obigen Text (Satzungen 250 [III]) ausdrücklich zwischen der allen gegenüber gleichen inneren Haltung (»in der Seele«) und dem Verhalten »im Äußeren« unterschieden, wo durchaus auch der »Stand eines jeden« anerkannt wird.8 Mit Standesunterschieden richtig umgehen und mit der eigenen Stufe zufrieden sein kann man überhaupt nur unter der Bedingung, daß man für sich selbst darum weiß und daran glaubt, »daß vor unserem Schöpfer und Herrn diejenigen mehr Verdienst haben, die mit größerer Güte aus Liebe zu seiner göttlichen Majestät allen helfen und dienen, ob nun in den bedeutenderen Dingen oder in den übrigen, eher niedrigen und demütigen« (Examen 13). Dieser Glaube wird im Examen 101102 dahingehend konkretisiert, daß man im Wissen um die Möglichkeit, auch »innerhalb des Hauses« Unrecht zu erleiden, danach verlangt, dem Gekreuzigten ähnlich zu werden und »also niemandem Böses mit Bösem, sondern Böses mit Gutem vergelten zu wollen«.

8    In seinem »Bericht des Pilgers« (n. 52) hatte Ignatius erzählt, daß er eine Zeitlang gemeint hatte, niemanden mehr mit den ihm zukommenden Titeln anreden zu sollen; das Briefcorpus beweist, daß er in der Zeit seines Generalats von diesem mißverständlichen Verhalten völlig Abstand genommen hat.

II.  Die »Gesellschaftsverfassung« des Ordens: »unsere Weise, in unserem Herrn voranzugehen«

In den Überlegungen der Exerzitien für eine »gesunde, gute Wahl« begegnet die Empfehlung, die eigenen Entscheidungen in der folgenden Weise zu objektivieren: »Einen Menschen anschauen, den ich nie gesehen noch gekannt habe, und, indem ich nun seine ganze Vollkommenheit wünsche, erwägen, was ich selbst ihm sagen würde, das er zur größeren Ehre Gottes unseres Herrn und zur größeren Vollkommenheit seiner Seele tun und erwählen solle. Und indem ich es ebenso mache, die Regel einhalten, die ich für den anderen aufstelle.« (GÜ 185)

    Indem dieser Geist der Exerzitien sich in der Gesellschaft Jesu einen Leib schafft9, entsteht eine Gemeinschaft, in der die Objektivierung der eigenen Entscheidungen sich nicht mehr nur im eigenen Kopf des einzelnen abspielt, sondern in der äußeren Realität selbst. Dafür ist bereits die Beratung der ersten Väter über die Gründung des Ordens das herausragende Beispiel: Anstatt daß jeder nur den eigenen Standpunkt darlegte, wollten die an der Beratung Beteiligten sich darum bemühen, daß ein jeder überhaupt alle ihm zugänglichen Gründe für und wider die Ordensgründung auch den anderen zugänglich machte. Diese sehr zeitaufwendige Methode wird später für den Alltag durch den Dialog mit dem Oberen ersetzt.

9    Vgl. Dominique Bertrand, Un corps pour l'Esprit Essai sur l'expérience communautaire selon les Constitutions de la Compagnie de Jésus, Paris 1974.

    Für die Gesellschaftsverfassung des neuen Ordens ist der personale Gehorsam gegenüber dem unmittelbaren Oberen konstitutiv. Dieser Gehorsam stellt die flexibelste Weise dar, auf die sich ständig verändernde geschichtliche Lebenssituation einzugehen.10 So tritt er an die Stelle der sonst weithin üblichen allgemeinen Regelungen und Vorschriften, die leicht zu Einengungen führen. Luis Gonçalves da Câmara erläutert dies im Memoriale: »Denn allgemein gesagt, war es nicht der Geist unseres Vaters, für Einzelübel universale Gesetze aufzustellen, [...] die die Guten binden und behindern« (n. 45). Tatsächlich verstehen auch die Satzungen selbst den Gehorsam in der Weise, daß »alle für das Wohl alle Macht haben« sollen und nur, »wenn sie schlecht handeln, alle Unterwerfung einzuhalten haben« (Satzungen 820 [X]).

10    In einem »Weise, mit irgendeinem Oberen umzugehen oder zu verhandeln« überschriebenen Text sagt Ignatius, daß man auch nach ein- oder zweimaliger Entscheidung des Oberen verbleibende Gegengründe nach Ablauf etwa eines Monats erneut darstellen könne: »Denn die Erfahrung deckt mit der Zeit viele Dinge auf; und mit der Zeit verändern sie sich auch.« (MI, Epp. IX, 90f [n. 5400a])

    Nach Satzungen 547 (VI) sollen wir »unsere ganze Absicht und alle Kräfte im Herrn aller darauf legen, daß der heilige Gehorsam in bezug auf die Ausführung, in bezug auf den Willen und in bezug auf den Verstand stets in allem vollkommen sei, indem wir mit großer Bereitschaft, geistlicher Freude und Ausdauer alles tun, was uns aufgetragen wird«. Dabei wird der größte Wert darauf gelegt, daß die Absicht und der Zweck, zu dem einer gesandt wird, »vollständig erläutert werde« (vgl. Satzungen 612 [VII]). Es handelt sich also um einen im höchsten Maß verstehenden und deshalb »lebendigen Gehorsam«. Damit ist unvereinbar die Vorstellung von einem Gehorsam ohne Verstand.11

11    Wenn es in Satzungen 547 (VI) weiter heißt, man solle sich im Gehorsam »wie ein toter Körper, der sich wohin auch immer bringen und auf welche Weise auch immer behandeln läßt« verhalten, dann ist damit wohl nicht der Vergleich mit einem »Leichnam« gemeint (wie die lateinische Übersetzung der Satzungen es nahelegt); »cuerpo muerto« kann jeden leblosen Gegenstand bezeichnen (vgl. auch »como una cosa muerta« in Epp. XI, 276 [n. 6386]). Der Gehorsam ist »blind« und »leblos« nur gegenüber dem Eigenwillen.
   
    Von seiten der Oberen soll den Untergebenen für die ihnen anvertrauten Aufgaben Rat und überhaupt jede mögliche Hilfe gegeben werden.12 Damit die Oberen »mit um so mehr Eifer, Liebe und Sorgfalt« ihren Untergebenen »helfen und ihre Seelen vor verschiedenen Schäden und Gefahren, die einmal eintreten könnten, schützen können« ist es allerdings »nicht nur sehr, sondern in höchstem Maß wichtig« ̵ eine der stärksten Betonungen, die in den Satzungen vorkommt ̵, daß sie um deren Stärken und um die Schwächen wissen und sie völlig kennen, »um sie dementsprechend besser auszurichten, ohne sie über ihr Maß in größere Gefahren oder Mühen zu bringen, als sie in unserem Herrn in Liebe tragen können« (Examen 92).

12    Vgl. Satzungen 612614 und 629631 (VII).

    So soll die Gesellschaftsverfassung des Ordens letzten Endes darin bestehen, daß alle einander helfen. Die Aufgaben des Ordens sind solcherart, daß bei den Aussendungen, »wenn es möglich ist, nicht einer allein, sondern wenigstens zwei gehen, sowohl damit sie sich gegenseitig in den geistlichen und leiblichen Dingen mehr helfen, wie damit sie für diejenigen, für die sie gesandt werden, nützlicher sind, indem sie untereinander die Mühen im Dienst der Nächsten aufteilen« (Satzungen 624 [VII]).13


13   Wie anders lautet diese Regel als das, was Ignatius im Bericht des Pilgers n. 35 von seiner ursprünglichen Auffassung erzählt, daß sich von anderen helfen lassen ein Mangel an Gottvertrauen sein könnte.

    Die Gesellschaft Jesu würde dann ihrem Wesen am besten entsprechen, wenn jedem Mitglied noch mehr als am Gelingen der eigenen Arbeit daran läge, zum guten Gelingen der Arbeit des ihm zugeordneten Mitbruders beizutragen und zu helfen.


III.  Die »Satzungen der Gesellschaft Jesu« als ihre »geschriebene Verfassung«

Das Ziel der Satzungen ist, »dem ganzen Leib der Gesellschaft und deren einzelnen Mitgliedern zu ihrer Bewahrung und Mehrung zur göttlichen Ehre und zum Wohl der gesamten Kirche zu helfen« (Satzungen 136). Sie tun dies, indem sie die Erfahrungen der realen Gesellschaftsverfassung des neuen Ordens ausdrücklich schriftlich fixieren, aber auch durch die Angabe von Motivationen die dafür erforderliche Bewußtseinsverfassung zu fördern suchen. Die Satzungen ordnen ihre eigene regelmäßige Lesung an (Satzungen 825 [X]).

    Die Satzungen bestehen zumeist nicht aus einfachen Vorschriften, sondern motivieren diese. Deshalb schreiben sie auch etwa dem Rektor mit der Vollmacht seiner Vorgesetzten die Aufgabe zu, von den Satzungen zu dispensieren, »wenn er bei einem einzelnen nach den Gegebenheiten und Notwendigkeiten und im Hinblick auf das größere gemeinsame Wohl glaubt, dies sei die Absicht dessen, der sie aufgestellt hat« (Satzungen 425 [IV]). Erst recht kommt diese Aufgabe dem General selbst zu, der dabei auf das Ziel der Satzungen sehen soll, »das der größere göttliche Dienst und das Wohl derer ist, die in diesem Institut leben« (Satzungen 746 [IX]).


    Dem entspricht auch, daß ̵ abgesehen von den Gelübden ̵ weder die Satzungen mit ihren Erläuterungen (die geschriebene Verfassung) noch die Lebensordnung (Gesellschaftsverfassung) »unter Todsünde oder läßlicher Sünde verpflichten können, wenn es der Obere ihnen nicht im Namen Christi unseres Herrn oder kraft des Gehorsams befiehlt, was bei den Dingen oder Personen geschehen kann, wo man glaubt, es sei für das Wohl eines jeden einzelnen oder das allgemeine Wohl sehr angebracht« (Satzungen 602 [VI]). Damit sind die einzelnen Vorschriften der Satzungen in ihrer Verpflichtungskraft dem Urteil der Oberen unterstellt.


    In den Satzungen begegnet häufig die Formulierung, eine bestimmte Anordnung gelte »im Regelfall (por ordinario)«.14 Damit ist nicht gemeint, es solle in der Mehrzahl der Fälle so gehalten werden, sondern es handelt sich nur um eine Art Beweislastregelung. Ein Vorangehen nach dem für den Regelfall Vorgesehenen bedarf keiner weiteren Begründung; wer von dem Vorgesehenen abweichen will, muß eine einsichtige Begründung haben. Eine solche könnte sogar in allen konkreten Fällen gegeben sein. So ist es auch typisch für die Satzungen, daß sie darin einüben, möglichst viele Handlungsalternativen zu bedenken, um dann die entsprechendste zu wählen.15

14    Vgl. z. B. Satzungen 575 (VI): »... soll in Häusern der Gesellschaft im Regelfall für kein Mitgliedd er Gesellschaft selbst, weder einen Oberen noch einen Untergebenen, ein Reittier gehaten werden«, und die humorvolle Erläuterung 576: »Außer wegen ... Denn dann ist mehr auf das allgemeine Wohl und die Gesundheit der einzelnen zu achten als auf begrenzte oder immerwährende Dauer, und mehr als darauf, ob man auf eigenen oder fremden Füßen geht«.

15     Als Beispiele sei insbesondere auf die Erläuterungen zum Kapitel »Die Aussendungen durch den Oberen der Gesellschaft« (Satzungen 618-632 [VII]) sowie auf die Aufzählung der Möglichkeiten hingewiesen, wie die Vollmacht des Sekretärs des Generals umschrieben werden kann (Satzungen 801 [IX]).

    Durch welche Regelungen vor allem dienen die Satzungen der Bewahrung, Festigung und Förderung der bereits beschriebenen Bewußtseins- und Gesellschaftsverfassung? Von größter Bedeutung erscheint die Grundregelung, daß niemand in der Gesellschaft Jesu ein Oberenamt anstreben darf (wo ihm solches Streben nachgewiesen werden kann, erklärt ihn das Recht als unfähig zu einem solchen Amt).16 Von der guten Auswahl der Oberen hängt der gute Stand des ganzen Ordens ab: »Denn wie diese sind, so werden übereinstimmend die Untergebenen sein«; ebenso hängt dieser gute Stand davon ab, daß die jeweils unmittelbaren Oberen große Vollmacht haben (Satzungen 820 [X]). Es wird die Forderung aufgestellt, daß »man nicht eine Masse oder Personen, die für unser Institut nicht geeignet sind, zulassen darf« (Satzungen 819 [X]), »denn wie die große Menge von in ihren Lastern nicht gut abgetöteten Personen keine Ordnung erträgt, so auch keine Einheit, die in Christus unserem Herrn so notwendig ist, um den guten Stand und das gute Vorangehen dieser Gesellschaft zu bewahren« (Satzungen 657 [VIII]). Die Kriterien zur Aufnahme in den Orden (Satzungen 147
162 [I]) haben eine überraschende Ähnlichkeit mit den Kriterien für die Generalswahl (Satzungen 723735 [IX]).

16    Vgl. in bezug auf den General Satzungen 694696 (VIII); sonst 817 (X).

    Sodann regeln die Satzungen auch, wie man mit eventuellen Konflikten umgeht. Dafür sei auf die erstaunlich »liberale« Regelung der einvernehmlichen Aufstellung von Schiedspersonen nach Examen 48-49 verwiesen.


    Die Satzungen bekunden überhaupt das größte Interesse des Ordens daran, daß in allem mit gegenseitiger Klarheit und möglichst auch gegenseitiger Zufriedenheit vorangegangen werde, damit alle »desto beständiger und fester im göttlichen Dienst und in ihrer ursprünglichen Berufung verharren« (Examen 18).

 


[Zurück zum Beginn] [Zurück zur Bibliographie von Peter Knauer]