Letzte Aktualisierung:  12. Mai  2009, PK


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Peter Knauer SJ

 

Die chalkedonensische Christologie

als Kriterium für jedes christliche Glaubensverständnis


Erschienen in:

ThPh 60 (1985) 1–15.

 

ZUSAMMENFASSUNG:
D
ie entscheidende Aussage der so genannten "Zwei-Naturen-Lehre des Konzils von Chalkedon (451) besteht darin, dass in Jesus Gottsein und Menschsein weder "getrennt" voneinander noch miteinander "vermischt" bestehen. Zum Verständnis dieser Aussage bedarf es einer relationalen Ontologie: Gottsein und Menschsein bleiben voneinander "unterschieden", sind jedoch aufeinander "bezogen".


In allen Glaubensaussagen geht es letztlich um die Gemeinschaft des Menschen mit Gott. Das gilt selbst von Aussagen über die immanente Dreifaltigkeit Gottes, die ja die Bedingung der Möglichkeit einer Menschwerdung des Sohnes zu unserem Heil ist. Alle Glaubensaussagen stellen deshalb das Problem der Vermittlung zwischen Gott und Mensch. Am deutlichsten wird dieses Problem in der Christologie, die von der Vermittlung von Gottsein und Menschsein in Jesus selbst handelt. Wie kann die Gottheit Gottes gewahrt werden, wenn Gott selbst Mensch wird? Die Geschichte der diesbezüglichen Denkversuche zusammenfassend, kommt Walter Kasper zu dem Urteil: „Es ist offenkundig, daß hinter der ständigen, bis heute nicht zur Ruhe gekommenen dialektischen Bewegung in der gesamten Dogmen- und Theologiegeschichte zwischen der Betonung der Einheit und der Betonung der Unterschiedenheit von Gottheit und Menschheit ein ungeklärtes und vielleicht unklärbares Problem steht: das Problem der Vermittlung zwischen Gott und Mensch." (Jesus der Christus, Mainz 1974, 283).

    Zum einen wird hier mit Recht das Problem der Vermittlung zwischen Gott und Mensch als ein die ganze Dogmen- und Theologiegeschichte bestimmendes Problem ausgesagt. Es ist wohl auch tatsächlich der Befund der Theologiegeschichte, daß Einheit und Unterschiedenheit von Gottheit und Menschheit gewöhnlich als in einer rätselhaften Spannung zueinander stehend angesehen werden. Zum anderen ist aber zu fragen, ob es sich tatsächlich um ein „vielleicht unklärbares Problem" handelt. Hieße dies nicht, daß Theologie bereits im Ansatz unmöglich wird?  
    Im folgenden soll zunächst dargestellt werden, wodurch das Problem der Vermittlung zwischen Gott und Welt als so schwer lösbar erscheint. Dann soll aufgewiesen werden, daß bereits das chalkedonensische Dogma selbst in seiner überaus genauen Formulierung eine Antwort auf dieses Problem bietet. Schließlich soll wenigstens summarisch erläutert werden, welche Verstehenshilfe das chalkedonensische Dogma für andere, ja sogar für alle anderen dogmatischen Aussagen bietet

I. Das Problem der Vermittlung zwischen Gott und Mensch

Für unser gewöhnliches menschliches Denken erscheint es als die Voraussetzung für eine Vermittlung von Gott und Welt, gleichsam einen gemeinsamen Horizont auszumachen, innerhalb dessen man zwischen Gott und Welt unterscheiden kann, um sie dann miteinander in Beziehung zu setzen. Aber gerade dieser Suche nach einem gemeinsamen Horizont scheint sich das Gottesverständnis der christlichen Botschaft zu widersetzen. Sie sagt von der Welt, daß sie "aus dem Nichts geschaffen" sei, und folgert daraus, daß Gott "im unzugänglichen Licht wohnt" (1 Tim 6,16). Muß dann nicht jeder Versuch einer Vermittlung zwischen Gott und Welt sich als ein in sich widersprüchliches Unterfangen erweisen?

    Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als biete die Analogielehre der Hochscholastik doch die Möglichkeit eines Gott und Welt übergreifenden, wenigstens diffus gemeinsamen Seinsbegriffs, mit Hilfe dessen das Problem der Vermittlung gelöst werden kann. Dieser Schein trügt; vielmehr schließt erst und gerade die Analogielehre einen solchen gemeinsamen Seinsbegriff endgültig aus.

    Die Analogielehre besagt, daß man von der Welt her Gott nur erkennen kann in dem Zusammenspiel einer "via affirmativa", einer "via negativa" und einer "via eminentiae". Wenn wir nämlich die Welt als geschöpflich begreifen, dann wollen wir damit sagen, daß Gott der ist, "ohne den nichts ist". Gott wird geradezu erst dadurch definiert, daß wir unsere eigene Geschöpflichkeit anerkennen: Die Welt geht restlos im Bezogensein auf eine solche andere Wirklichkeit auf, die überhaupt nur durch die Anerkennung der Restlosigkeit (=  in allem, worin wir uns vom Nichts unterscheiden) unseres Bezogenseins auf sie bestimmt werden kann. Diese Geschöpflichkeit von Welt ist aus dem Grund zu behaupten, weil alle Weltwirklichkeit eine Einheit von Gegensätzen wie von Sein und Nichtsein, Notwendigkeit und Nichtnotwendigkeit, Identität und Nichtidentität darstellt und eine solche Einheit von Gegensätzen sich nur dann widerspruchsfrei beschreiben läßt, wenn sie als "restloses Bezogensein auf ... / in restloser Verschiedenheit von ..." ausgesagt wird. Das Woraufhin eines solchen restlosen Bezogenseins nennen wir "Gott".


    Als restlos in Relation auf Gott aufgehend ist die Welt Gott ähnlich. Deshalb kann man, weil der Welt Wirklichkeit zukommt, hinweisend und damit analog auch Gott (Über-)Wirklichkeit zuschreiben. Das ist der Sinn der "via affirmativa". Daß man Gott nur analog Wirklichkeit zuschreiben kann, besagt, daß seine Wirklichkeit nicht "unter" unsere Begriffe fällt und daß deshalb unsere Begriffe in bezug auf sie nur noch "hinweisend" gebraucht werden. Gott selbst ist unbegreiflich.


    In ihrem restlosen Bezogensein auf Gott bleibt die Welt jedoch restlos von Gott verschieden. Gerade in ihrer Ähnlichkeit Gott gegenüber ist sie ihm deshalb zugleich unähnlich. Darin ist die "via negativa" begründet. Ist die Welt endlich, veränderlich, unseren Begriffen unterworfen usw., dann sagen wir wiederum hinweisend von Gott Un-Endlichkeit, Un-Veränderlichkeit, Un-Begreiflichkeit aus.


    Der Anschein eines für Gott und Welt diffus gemeinsamen übergreifenden Seinsbegriffs entsteht, solange man fälschlich meint, die "via affirmativa" und die "via negativa" bereits für sich allein verstehen zu können. Dann würde sich der Gottesbegriff von einer Projektion von der Welt her noch nicht unterscheiden. Die "via affirmativa" und die "via negativa" werden jedoch in der Sicht der Hochscholastik nur im Licht der "via eminentiae" richtig verstanden.


    Die "via eminentiae", der Weg des Überstiegs, geht davon aus, daß ein restloses Bezogensein der Welt auf Gott ein einseitiges Bezogensein ist. Die Welt kann nicht über ihre restlose Abhängigkeit von Gott hinaus noch einmal ihrerseits konstitutiver Terminus einer realen Beziehung Gottes auf sie sein. Mag die Welt Gott zugleich ähnlich und in ihrer Ähnlichkeit doch unähnlich sein, so ist Gott seinerseits der Welt nur unähnlich. Wenn wir also hinweisend von Gott unendliche, absolute Wirklichkeitsfülle aussagen, so ist dies doch noch immer wie nichts gegenüber ihm selbst. Deshalb heißt es in der gelungenen Analogieformel des IV. Lateranense: "Zwischen Schöpfer und Geschöpf kann keine Ähnlichkeit festgestellt werden, ohne daß eine noch größere Unähnlichkeit zwischen ihnen festgestellt werden muß" (DS 806). Durch die "via eminentiae", die die Einseitigkeit der Ähnlichkeit der Welt Gott gegenüber betont, ist der Gottesbegriff der christlichen Tradition von jeder menschlichen Selbstprojektion unterschieden. Denn ein projiziertes Bild müßte in einer wechselseitigen Ähnlichkeit zu seinem Ursprung stehen. Thomas v. Aquin formuliert: "Mag man auch in gewisser Hinsicht zugeben können, daß das Geschöpf Gott ähnlich ist, so ist doch auf keine Weise zuzugeben, daß Gott dem Geschöpf ähnlich sei. Denn eine gegenseitige Ähnlichkeit kann nur bei dem angenommen werden, was der gleichen Ordnung zugehört." (S.th. I q4 a3 ad4)


    Diese hochscholastische Analogielehre fußt auf der Einsicht, daß die reale Relation der Welt auf Gott einseitig ist; diese Einsicht ihrerseits beruht auf der Anerkennung unseres Geschaffenseins aus dem Nichts. Denn von Gott eine reale Beziehung auf die Welt auszusagen, für die die Welt der konstitutive Terminus wäre, würde Gott der gleichen Veränderlichkeit unterwerfen, die bei der Welt der Grund dafür war, auf ihre Geschöpflichket zu schließen. Thomas v. Aquin lehrt deshalb: "In Gott gibt es keine reale Relation auf Geschöpfe, sondern in den Geschöpfen besteht eine reale Relation auf Gott." (S.th. I q28 al ad3) Während die Welt in sich selbst der Bereich einer wechselseitigen Beziehung und damit gegenseitigen Abhängigkeit aller ihrer Teile ist, steht sie zu Gott im Verhältnis einer schlechthin einseitigen Beziehung und Abhängigkeit. Eine Relation Gottes auf die Welt kennt Thomas nur als eine "relatio rationis", die wir zwischen unseren Begriffen von Gott und Welt bilden; ihr reales Fundament ist die reale Beziehung der Welt auf Gott: "Weil also Gott außerhalb der gesamten Ordnung des Geschöpflichen ist und alle Geschöpfe auf ihn hingeordnet sind und nicht umgekehrt, ist deutlich, daß die Geschöpfe sich real auf Gott selbst beziehen, es aber in Gott keine reale Relation von ihm zu den Geschöpfen gibt, sondern nur eine solche gedachter Art (secundum rationem), insofern die Geschöpfe sich auf ihn beziehen." (S.th. I ql3 a7 c)


    Die hochscholastische Analogielehre bestreitet, daß die Unterscheidung zwischen Gott und Welt einem diffus gemeinsamen, übergreifenden Seinsbegriff nachgeordnet sei. Sie erklärt vielmehr diese Unterscheidung selbst als das Fundament unseres nur die Welt übergreifenden Seinsbegriffs, der deshalb in bezug auf Gott nur noch hinweisend, analog angewandt werden kann. Und so wird erkannt, daß allein Gott selbst der Unterscheidung von Gott und Welt noch voraus ist. Daß die Welt aus dem Nichts geschaffen sei, bedeutet anzuerkennen, daß das Verhältnis der Welt zu Gott nicht additiv ist, daß also Gott und Welt zusammen keineswegs mehr als Gott allein sind. Das Gottesverständnis der christlichen Botschaft läuft darauf hinaus, in der Praxis diese Unterscheidung von Gott und Welt einzuüben und die Welt als Gottes Geschenk zu verstehen, anstatt sie selbst als das Letzte anzusehen. Weil Gott und Welt nicht unter einen übergreifenden Seinsbegriff fallen, sondern unser gesamtes Seinsverständnis auf Gott hin relativiert wird, kann man der Welt nicht mehr durch Weltvergötterung gerecht werden.
 
    Die hochscholastische Lehre von der Einseitigkeit der realen Relation des Geschaffenen auf Gott wird nun aber erstaunlicherweise in heutiger Theologie kaum mehr beachtet. Denn sie erscheint geradezu als ein fatales Hindernis für den Versuch unseres gewöhnlichen menschlichen Denkens, zwischen Gott und Welt zu "vermitteln".


    Tatsächlich scheint es gar keinen noch fundamentaleren Einwand gegen die christliche Rede von einer Gemeinschaft des Menschen mit Gott zu geben als gerade die hochscholastische Behauptung, daß eine reale Relation von Gott zur Welt, für die die Welt der konstitutive Terminus wäre, ausgeschlossen sei.


    Theologiegeschichtlich kommt das gleiche Problem in der Frage zum Ausdruck, wie die Gemeinsamkeit des Wirkens der göttlichen Personen nach außen mit einer jeder einzelnen Person eigentümlichen Funktion in der Heilsgeschichte vereinbart werden kann. Es ist dogmatische Lehre der Kirche, daß Vater, Sohn und Heiliger Geist gegenüber der Schöpfung als ein einziges Prinzip wirken (vgl. z.B. DS 1330f). Deshalb ist es natürlicher Gotteserkenntnis nicht möglich, die einzelnen göttlichen Personen in ihrer Unterschiedenheit voneinander aus der Welt zu erkennen. Wenn aber das Wirken Gottes "nach außen" den drei Personen strikt gemeinsam ist, wie kann dann im eigentlichen Sinn eine Menschwerdung der zweiten göttlichen Person als solcher ausgesagt werden? Wie kann man dann im eigentlichen Sinn von einer Einwohnung des Heiligen Geistes in den Herzen der Gläubigen sprechen? Die Lösung, daß solche Aussagen nicht eigentlich (proprie), sondern nur zugeeignet (appropriative) gelten, erscheint im Gesamtzusammenhang der christlichen Botschaft nicht überzeugend; doch wie ist das Problem anders zu lösen?


    Wahrscheinlich läßt sich auch die der gesamten Theologie Luthers zugrundeliegende Frage "Wie kriege ich einen gnädigen Gott?" in ihrer existentiellen Bedeutung erst von hier aus verstehen. Sie beruht auf der Einsicht, daß keine geschaffene Qualität jemals ausreichen kann, Gemeinschaft mit Gott zu begründen; und es ist ja zunächst nicht zu sehen, wie sonst Gemeinschaft mit Gott noch möglich sein soll. Denn die bloße Antwort: "aus Gnade" steht ja gerade in ihrer Möglichkeit in Frage. Wie soll es mit der schlechthinnigen Absolutheit Gottes vereinbar sein, daß er sich Geschöpfen gnädig zuwendet? Wird nicht eine Relation grundsätzlich durch ihren Terminus konstituiert und ist ohne ihn nicht denkbar? Wenn Gottes liebende Beziehung zur Welt an dieser ihren bestimmenden Terminus hätte, dann würde er damit der Veränderung unterworfen. Denn ihm käme eine solche Beziehung überhaupt erst von da an zu, daß die Welt als ihr Terminus existiert. Aber wie ist sonst eine Gemeinschaft von Menschen mit Gott möglich?


    Eine Vermittlung von Gott und Welt aufgrund eines übergreifenden gemeinsamen Seinsbegriffs ist nach dem Gesagten ausgeschlossen. Paradoxerweise wird es aber gerade diese Verstehensschwierigkeit gegenüber der christlichen Botschaft sein, die bei genauerem Zusehen deren Verständnis überhaupt erst ermöglicht. Dies soll die folgende kurze Analyse des Dogmas von Chalzedon zeigen. Meine Interpretation des Konzils von Chalzedon wird über das hinausgehen, was damals gedacht worden ist, und kann sich insofern nicht auf das Konzil selbst berufen. Dennoch meine ich, damit nur Linien auszuziehen, die in dem Konzilstext angelegt sind und in dessen eigener Konsequenz liegen.

 

II. Unterscheidende In-Beziehung-Setzung von Gott und Welt nach dem Dogma von Chalkedon

Zunächst sei der Text des Dogmas in einer eigenen, nach dem Sinn gegliederten Übersetzung vorgelegt; von besonderer Wichtigkeit ist dabei die genaue Übertragung der griechischen adverbial gebrauchten Verbaladjektive, die das Verhältnis von Gottsein und Menschsein in Christus bestimmen:

"Indem wir also den heiligen Vätern folgen, lehren wir alle übereinstimmend, unseren Herrn Jesus Christus als ein und denselben Sohn zu bekennen:
Er ist vollkommen als derselbe im Gottsein
    und vollkommen als derselbe im Menschsein;
wahrhaft Gott
    und als derselbe wahrhaft Mensch aus Vernunftseele und Leib;
gleichen Wesens mit dem Vater dem Gottsein nach
    und als derselbe gleichen Wesens mit uns dem Menschsein nach, in allem uns gleich mit
    Ausnahme von Sünde;
vor aller Zeit aus dem Vater gezeugt dem Gottsein nach,
    als derselbe in den Letzten Tagen jedoch um unserer- und unseres Heiles willen aus der Jungfrau
    Maria, der Gottesgebärerin, dem Menschsein nach.
Er wird erkannt als ein und derselbe Christus, Sohn, Herr, Einziggeborene in zwei Naturen

        ohne Vermischung, avsugχύτως

ohne Veränderung, avτρέπτως

ohne Teilung, avdiairέτως 

ohne Trennung, avcwri,stwj 

In keiner Weise wird die Unterschiedenheit der Naturen durch die Einigung aufgehoben;
vielmehr wird die Eigenart einer jeden Natur bewahrt und kommt zusammen zu einer Person und Hypostase.
Er ist nicht in zwei Personen gespalten oder geteilt,
sondern ein und derselbe Sohn, Einziggeborene, Gott, Logos, Herr Jesus Christus,
wie einst die Propheten über ihn und Jesus Christus selbst uns unterwiesen und das Glaubensbekenntnis der Väter uns überliefert hat.
Da dies von uns mit aller allseitigen Genauigkeit und Sorgfalt formuliert worden ist, hat die Heilige und Ökumenische Synode bestimmt, daß es niemandem erlaubt ist, einen anderen Glauben vorzutragen oder anders zu schreiben, zu verfassen, zu denken oder zu lehren."


Dieses Dogma – heute gewöhnlich als die "Zwei-Naturen-Lehre" bezeichnet – besagt: Von Jesus ist sowohl das wahre Gottsein wie das wahre Menschsein auszusagen. Dabei wird das Gottsein Jesu ausdrücklich als in der Weise der Sohnschaft auf den Vater bezogen verstanden, und die Menschwerdung wird als ein geschichtliches Geschehen um unseres Heiles willen gesehen. Als Mensch ist Jesus "in allem uns gleich mit Ausnahme von Sünde".

    Dieses Glaubensverständnis in bezug auf Jesus wird auf Jesu eigene Verkündigung zurückgeführt und als etwas verstanden, worin die Kirche notwendig übereinstimmen muß. Abschließend weist der Text selbst darauf hin, daß er "mit aller allseitigen Genauigkeit und Sorgfalt" formuliert worden sei. Er will bei seiner Genauigkeit behaftet werden.

    Angesichts dieser Selbsteinschätzung der Konzilsaussage könnte es als ein überraschender Befund erscheinen, daß heutige christologische Traktate den Begriffen, mit denen das Konzil das Verhältnis der beiden Naturen in Jesus Christus zueinander aussagt, kaum besondere Aufmerksamkeit zuwenden und jedenfalls wenig damit anzufangen wissen. Man stellt gewöhnlich nur fest, daß es sich bei dem
avsugχύτως, avτρέπτως, avdiairέτως, avcwri,stwj um lediglich negative, abgrenzende Begriffe handele und man im übrigen vor einem unerklärlichen Geheimnis stehe.

    So schreibt z.B. Michael Schmaus: Das Konzil "sah seine Aufgabe darin, zu erklären, wie Christus zugleich einer und zwei sein könne ... Wir müssen bekennen, daß es zwar keine vollbefriedigende Antwort gab. Aber man muß hinzufügen, daß eine solche wahrscheinlich unmöglich ist. Denn gerade diese Frage führt uns in das innerste Geheimnis der ,hypostatischen Union' hinein, das zwar immer mehr erhellt, aber letztlich nicht erklärt werden kann. ... Negativ wurde ... zwar jede Trennungstheologie und jede Identitätstheologie ausgeschlossen. Aber gerade die Kernfrage, inwieweit die menschliche Natur Realität behalten könne, wenn ihr eine nicht in ihr selbst wurzelnde Personalität zugesprochen werde, blieb unbeantwortet." (Der Glaube der Kirche, Band IV, 2, St. Ottilien 1980, 131 und 134).

    Ähnlich erklärt Hermann Dembowski, die Rede des Konzils sei "eindeutig nur in ihrer Negation", nämlich der "Abgrenzung gegen ein Trennen der göttlichen und menschlichen Natur ... wie gegen deren Vermischung". "Das ermöglicht eine klare Abgrenzung der verantwortlichen christologischen Aussage und das bedeutet schließlich die Einsicht, daß das Zusammensprechen von Gott und Mensch im Blick auf Jesus von Nazareth nicht in einem bruchlos aufgehenden Entwurf möglich ist." (Einführung in die Christologie, Darmstadt 1976, 110)

    Piet Smulders kritisiert die Formel von Chalkedon mit der Bemerkung: "Wenn man die ,Naturen' Gottes und des Menschen so leicht unterscheidet, wie Chalkedon das voraussetzt, ist dann die menschliche Erscheinung und das menschliche Handeln Jesu noch Selbstoffenbarung Gottes?" (Dogmengeschichtliche und lehramtliche Entfaltung der Christologie, in: MySal III, l, Einsiedeln 1970, 468)

    Karl Rahner ist der Auffassung, daß in der Formel von Chalkedon der "Einheitspunkt in der hypostatischen Union" unbestimmt bleibe (Grundkurs des Glaubens, Freiburg 1976, 285). Nach ihm werden die beiden Naturen "nicht in eine dritte ,Natur' vermischt, sondern bestehen .ungetrennt' (vom Logos) und ,unvermischt' (unter sich)" (ebd. 281). Die Begriffe "unvermischt" und "ungetrennt" werden hier offenbar als untereinander so gegensätzlich verstanden, daß man sie nur miteinander vereinbaren kann, indem man sie auf Verschiedenes bezieht.

    Es handelt sich nach der wohl allgemeinen Auffassung bei dem "unvermischt" und "ungetrennt" um die untereinander "extremen Pole" einer "christologischen Spannung". Symptomatisch für die Verstehensschwierigkeiten gegenüber dem chalkedonensischen Dogma ist ferner die heute in bezug auf die verschiedensten Themen sehr häufig anzutreffende sprachliche Verwechslung von "unterscheiden" und "trennen".

    Demgegenüber ist zum einen zu fragen, ob der Begriff des Glaubensgeheimnisses richtig interpretiert wird, wenn man es für nicht genau aussagbar hält. Damit wird Glaubensgeheimnis mit einer logischen Schwierigkeit verwechselt. Unter einem Glaubensgeheimnis ist in Wirklichkeit ein Sachverhalt zu verstehen, den man nicht bereits mit der bloßen Vernunft an der Welt ablesen kann, sondern der nur durch das Wort Gottes zur Gegebenheit kommt. Sowohl seine positive Möglichkeit wie seine Wirklichkeit werden allein im Glauben erkannt. "Schwierig" wird ein Glaubensgeheimnis jedoch nur da, wo man sich darauf versteift, den neuen Wein der christlichen Botschaft weiterhin in alte Schläuche zu gießen. Die christliche Botschaft läßt sich nicht in das von ihr vorgefundene menschliche Vorverständnis einordnen, sondern sie mutet dem Menschen zu, sich bis in sein mitgebrachtes Vorverständnis hinein in Frage stellen zu lassen und alles erneut zu prüfen. Sie bringt gewissermaßen ihre eigene, neue Philosophie mit sich, die sich dann gegenüber jeder Prüfung bewährt. Anstatt sich einordnen zu lassen, will sie selbst als das letzte, alles umfassende Wort über unsere menschliche Wirklichkeit verstanden werden.

    Zum anderen ist zu fragen, ob "ohne Vermischung" und "ohne Trennung" tatsächlich einander ausschließende Gegensätze sind. Das sind sie nur, solange man sich eine Einheit voneinander verschiedener Wirklichkeiten nur als deren wenigstens partielle Identifikation vorstellen kann. Innerhalb substanzmetaphysischen Denkens ist dies die einzige Möglichkeit, eine Einheit von Verschiedenem auszusagen. Substanzmetaphysisch ist dasjenige Denken, für das die Kategorie der Relation grundsätzlich der der Substanz nachgeordnet ist.

    Bereits von ihrem Schöpfungsverständnis her verlangt die christliche Botschaft jedoch ein relationalontologisches Denken. Die Welt kann in ihrer gesamten Eigenwirklichkeit Gott gegenüber nicht anders denn als von vornherein restloses Bezogensein auf ihn in restloser Verschiedenheit von ihm verstanden werden. Denn ihre Geschöpflichkeit kann nicht als eine zu ihrem Eigensein hinzukommende Eigenschaft verstanden werden, sondern ist mit diesem Eigensein von vornherein völlig identisch. Und die Welt kann als das, was restlos darin aufgeht, ohne Gott nicht sein zu können, nicht in einer Weise gedacht werden, daß sie additiv zu Gott hinzukommt, als sei Gott und Welt zusammen mehr als Gott allein
1.

 

1    Vgl. dazu das ungewöhnlich aufschlußreiche Buch von R. Sokolowski, The God of Faith and Reason Foundations of Christian Theology, Notre Dame 1982. Der Autor geht erneut auf die Anselmsche Gottesdefinition "id quo maius cogitari nequit" ein. Er erläutert, daß es sich dabei keineswegs nur um einen freischwebenden Begriff handelt, sondern um eine Aussage auch über die Welt selbst: Gott ist solcherart, daß Gott und Welt zusammen nicht noch mehr oder besser sind als Gott allein. Dies kann man nur behaupten, wenn man die Welt als aus dem Nichts geschaffen versteht, und das heißt als restlos in ihrem Bezogensein auf Gott in Verschiedenheit von ihm aufgehend. Auch im Denken kann die Welt nicht mehr vergotten werden, sondern es gilt: "The most fundamental thing we come to in Christianity, the distinction between the world and God, is appreciated as not being the most fundamental thing after all, because one of the terms of the distinction, God, is more fundamental than the distinction itself." (33)

    Unter der Voraussetzung, daß die Welt vollkommen in ihrem Bezogensein auf Gott aufgeht, ist nach der christlichen Botschaft eine reale Beziehung Gottes auf die Welt nur noch in der Weise aussagbar, daß die Welt in eine Beziehung Gottes auf Gott aufgenommen ist. Die christliche Botschaft verkündet, daß die Liebe Gottes zur Welt im voraus dazu die Liebe des Vaters zum Sohn ist, die der Heilige Geist ist. Gottes Liebe zur Welt hat nicht an dieser selbst ihr Maß, sondern wird durch das ewige, göttliche Gegenüber Gottes, den Sohn, konstituiert. Dies ist es, worauf sich christlicher Glaube verläßt.

    So stellt das trinitarische Gottesverständnis die erste Antwort auf die Frage nach der Vermittlung von Gott und Welt dar. Eine reale Beziehung Gottes zur Welt läßt sich nur dann aussagen, wenn nicht die Welt ihr konstitutiver Terminus ist, sondern wenn diese Beziehung "vor Grundlegung der Welt" (vgl. Joh 17,24; Eph 1,4; 1 Petr 1,20) bereits besteht als eine Beziehung Gottes zu Gott, des Vaters zum Sohn. Diese reale Beziehung ist selbst Gott, nämlich der Heilige Geist.

    Wenn die Welt nicht selbst der konstitutive Terminus der Liebe Gottes zu ihr sein kann, dann ist sie auch nicht das Maß der Liebe Gottes. Das bedeutet aber, daß man Gottes Liebe zu ihr nicht an ihr selber ablesen kann; diese Liebe bleibt vielmehr so lange verborgen, bis sie zur Welt "dazugesagt" wird. Wo diese Liebe Gottes, die an nichts Geschaffenem ihr Maß hat, sich aussagt, sprechen wir von "Wort Gottes".

    Die christliche Botschaft versteht unter "Wort Gottes" das Geschehen der Selbstmitteilung Gottes in dem mitmenschlichen Wort der Weitergabe des Glaubens. Weil Wort seinem Wesen nach mitmenschliche Kommunikation ist, ist der Begriff "Wort Gottes" letztgültig nur dann sinnvoll, wenn Gott selbst als Mensch begegnet. Die christliche Botschaft beruft sich zur Begründung ihres "Wort Gottes"-Charakters darauf, daß der Sohn Gottes Mensch geworden ist. Die menschliche Natur Jesu wird in den göttlichen Selbstbesitz des Sohnes hineingeschaffen. Die reale Relation Gottes auf die menschliche Natur Jesu hat nicht an dieser ihren konstitutiven Terminus, sondern ist von Ewigkeit her bereits Relation der göttlichen Wirklichkeit auf sich selber. Man kann deshalb das Gottsein Jesu nicht an seiner menschlichen Natur ablesen, sondern muß es gesagt bekommen und wird ihm nur im Glauben gerecht. An Jesus Christus als den Sohn Gottes glauben bedeutet dann, sich aufgrund seines Wortes von Gott geliebt zu wissen, und zwar mit einer Liebe, die an nichts Geschaffenem ihr Maß hat und ebendeshalb im Leben und Sterben schlechterdings verläßlich ist. Diese Gewißheit befreit den Menschen aus der Macht der Angst um sich selbst, die sonst der Grund aller Unmenschlichkeit ist.

    Dieses inkarnatorische Gottesverständnis führt die bereits gegebene Antwort auf das Problem der Vermittlung von Gott und Welt weiter. Es beantwortet die Frage, auf welche Weise uns unser Hineingenommensein in die Liebe zwischen dem Vater und dem Sohn, das nicht an uns selbst ablesbar ist, offenbar wird.

    Diese im Wort der Glaubensverkündigung uns als offenbare angebotene Gnade können wir jedoch nur annehmen in einem Akt, der verborgen längst von der gleichen Gnade umfangen ist. Wir müssen in Wahrheit schon immer von Gott geliebt sein, um die Verkündigung seiner Liebe so verstehen zu können, wie sie gemeint ist. Durch die Glaubensverkündigung wird nur offenbar, daß wir von vornherein in die Liebe des Vaters zum Sohn hineingeschaffen sind. Das versteht die christliche Verkündigung unter unserem "In-Christus-Geschaffensein". Der Glaube als die ausdrückliche Annahme der Gnade Gottes ist selbst das offenbare Erfülltsein vom Heiligen Geist.

    Dieses pneumatologische Gottesverständnis stellt den Abschluß der Antwort auf die Frage nach der Vermittlung von Gott und Welt dar. Nur wenn die Welt von vornherein in die Gnade Gottes, nämlich in die Liebe des Vaters zum Sohn, hineingeschaffen ist, kann Gemeinschaft mit Gott bestehen.

    Bei einer solchen relationalontologischen Interpretation des Heilsgeheimnisses lassen sich die chalkedonensischen Begriffe
avsugχύτως, avτρέπτως, avdiairέτως, avcwri,stwj  mühelos in ihrer ursprünglichen genauen Bedeutung verstehen. Der Grundsachverhalt ist, daß es um unterscheidende Inbeziehungsetzung im Gegensatz zu jeder Form von Vermischung oder Trennung geht.

    Das Wort
avsugχύτως, "ohne Vermischung", bedeutet den Ausschluß jeder auch nur partiellen Identität von Gottsein und Menschsein. Die Einheit beider besteht nicht in der Weise einer auch nur partiellen Verschmelzung. Daß Gottsein und Menschsein Jesu "unvermischt" bleiben, besagt, daß sie voneinander schlechthin "unterschieden" bleiben. Das mit dem Begriff "ohne Vermischung" Gemeinte läßt sich also auch positiv mit dem Begriff der Unterschiedenheit aussagen. Die Unterschiedenheit und damit Nichtidentität von Gottsein und Menschsein bedeutet aber dann keine "Trennung", wenn Gottsein und Menschsein in Jesus Christus durch die Relation eines göttlichen Selbstbesitzes miteinander verbunden sind.

    Mit
avτρέπτως, "ohne Veränderung", ist gemeint, daß die voneinander unterschiedenen Wirklichkeiten des Gottseins und des Menschseins in sich selbst bleiben, was sie sind. Das Gottsein wird nicht gemindert, und das Menschsein wird nicht zu einem Übermenschsein gesteigert. Da das Menschsein Jesu nicht konstitutiver Terminus der Relation des göttlichen Selbstbesitzes ist, in den es aufgenommen ist, kann man nicht das Gottsein Jesu an seinem Menschsein ablesen; das Gottsein Jesu ist vielmehr nur im Glauben erkennbar. Aber gerade für diesen Glauben sind wir auf das wahre Menschsein Jesu angewiesen, weil uns nur in wirklichem menschlichen Wort, gesprochen von einem Menschen zum anderen, sein Gottsein kund werden kann. In bezug auf den Menschen Jesus glauben wir aufgrund seines Wortes, daß er der Sohn Gottes ist, der uns Anteil an seinem Verhältnis zum Vater gibt. Das ατρέπτως besagt nicht nur, daß das Menschsein Jesu in allem den Gesetzlichkeiten des Geschaffenen unterliegt, sondern begründet auch die allgemeine kirchliche Lehre von der mit der Geschöpflichkeit mitgegebenen und durch die übernatürliche Bestimmung an keiner Stelle aufgehobenen Eigengesetzlichkeit weltlicher Wirklichkeiten (vgl. bereits I. Vatikanum, DS 3019, ausdrücklicher II. Vatikanum, Gaudium et Spes, Nr. 36,2; 41,2).

    Was bedeutet
avdiairέτως, "ohne Teilung" ? Teilen kann man nur ein aus Teilen zusammengesetztes Ganzes. Gottsein und Menschsein Jesu verhalten sich nicht wie die Teile eines umfassenderen Ganzen zueinander, etwa wie zwei aneinander angrenzende Substanzen. Dies wäre ein Modell von Einheit, für dessen Beschreibung man ähnlich wie bei dem Modell der Vermischung oder Überschneidung ohne den Relationsbegriff auskommen könnte. Positiv bedeutet "ohne Teilung" bei der Einheit zweier voneinander unterschieden bleibender Wirklichkeiten, daß sie ursprünglicher eins sind als in nachträglicher Zusammensetzung. Die menschliche Natur Jesu ist vom ersten Augenblick ihrer Existenz an bereits hineingeschaffen in den Selbstbesitz des Sohnes (DS 298).

    Mit
avcwri,stwj, "ohne Trennung", schließlich ist gemeint, daß die voneinander unterschieden bleibenden Wirklichkeiten des Gottseins und des Menschseins Jesu nicht isoliert voneinander bestehen, als hätten sie nichts miteinander zu tun, sondern daß sie miteinander durch die Relation des göttlichen Selbstbesitzes, in die das Menschsein Jesu aufgenommen ist, verbunden sind. Man spricht von "hypostatischer Union", weil es das Personsein des Logos als ein göttlicher Selbstbesitz ist, das das Gottsein und das Menschsein miteinander verbindet. Für "ungetrennt" kann man sehr einfach positiv "miteinander verbunden" sagen: die eine Wirklichkeit ist auf die andere bezogen und existiert nicht ohne die andere. Daß dies der ursprüngliche Sinn der Aussage von Chalkedon ist, erhellt daraus, daß bereits Tertullian formuliert hatte: "Videmus duplicem statum, non confusum, sed coniunctum, in una persona deum et hominem Jesum." (Adv. Prax. 26: ed. Evans 124, 37 ff)

    Diese Verhältnisbestimmung von Gottsein und Menschsein in Jesus Christus steht im Gegensatz zu jeder Form von Vermischung oder Trennung. Vermischung wäre immer dann gegeben, wenn man meinte, das Gottsein Jesu wirke sich an seinem Menschsein dadurch aus, daß es ihm übermenschliche Kräfte verleihe. Demgegenüber betont das Dogma von Chalkedon, daß Jesus in seinem Menschsein "in allem uns gleich ist außer der Sünde". Dieser Satz ist so formuliert, daß er keine anderen Ausnahmen zuläßt. Er bedeutet: Jesus ist der Mensch, der aufgrund seines Geliebtseins vom Vater nicht aus der Angst um sich lebt und durch die Teilgabe an seinem Gottesverhältnis auch andere Menschen aus der Macht der Angst um sich selber befreie. Darin besteht die Erlösung.

    Aber auch Trennung von Gottsein und Menschsein in Jesus wird durch das Dogma ausgeschlossen. In bezug auf den Menschen Jesus selbst und nicht losgelöst von ihm wird die Gottessohnschaft geglaubt. Der Mensch Jesus selbst ist Gottes Sohn, sosehr dies nur dem Glauben zugänglich ist. Trennung bestünde darin, daß zwar Jesus uns unser Hineingenommensein in die Liebe des Vaters zum Sohn verkündet hätte, aber er selbst dafür unwichtig wäre. Vielmehr handelt es sich um unsere Anteilhabe an seinem Gottesverhältnis.

    Man darf nun dieses Dogma nicht positivistisch verstehen, als habe es Gott zwar gefallen, Gottsein und Menschsein unvermischt und ungetrennt zu belassen, aber als sei prinzipiell denkbar und möglich auch ein anderes Verhältnis, nämlich das der Vermischung. Jede Form von Vermischung von Gott und Welt ist vielmehr sowohl theologisch wie auch philosophisch ausgeschlossen. Vermischung von Gott und Welt würde nämlich die Leugnung unseres Geschaffenseins aus dem Nichts implizieren und eben damit auch die Leugnung des Gottseins Gottes. Eine Vermischung von Gott und Welt ist gegeben, wenn Gottes Handeln in der Welt als Gottes Handeln welthaft ausweisbar wäre und damit anders als im Glauben allein erkannt werden könnte. "Ohne Vermischung" bedeutet, daß jede Form von (im Grunde immer monophysitischer) Mythologie ausgeschlossen wird.

    Das "unvermischt" und "ungetrennt" hat unmittelbar kreuzestheologische Bedeutung. Wäre nämlich das Gottsein Jesu welthaft ausweisbar und somit weltlicher Weisheit zugänglich gewesen, dann hätten die Machthaber der Welt "den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt" (l Kor 2,8).

 

III. Das chalkedonensische Dogma als Interpretationsschlüssel für alle anderen christlichen Dogmen

In allen christlichen Dogmen geht es zugleich um die rechte Unterscheidung und die rechte In-Beziehung-Setzung von Gott und Welt gegen ihre Vermischung oder Trennung. Nach Hugo v. Sankt Viktor ist dieses Unterscheiden konstitutiv für die christliche Gottesverehrung ("recte offert"; De sacramentis christianae fidei, PL 176, 334CD).

    Das christologische Dogma verweist zunächst zurück auf das trinitarische Dogma. Es geht in diesem Dogma um die Aussage, daß Gemeinschaft von Menschen mit Gott nur so möglich ist, daß sie in die Liebe Gottes zu Gott, des Vaters zum Sohn, aufgenommen sind. Auch von den göttlichen Personen gilt, daß sie miteinander "ohne Vermischung" und "ohne Trennung" existieren: "inseparabilis et inconfusa haec Trinitas" (XI. Konzil von Toledo, DS 531). Vater, Sohn und Geist sind jeweils Selbstbesitz ein und derselben göttlichen Wirklichkeit. Diese drei Weisen des Selbstbesitzes sind so voneinander unterschieden, daß der Vater als die erste, ursprunglose Person unmittelbarer göttlicher Selbstbesitz ist. Der Sohn ist ein zweiter Selbstbesitz der gleichen göttlichen Wirklichkeit, der den Selbstbesitz des Vaters voraussetzt. Der Heilige Geist ist ein Selbstbesitz derselben Wirklichkeit Gottes, der den Vater und den Sohn voraussetzt; er ist die beide miteinander verbindende Liebe.

    Dem christologischen Dogma folgt das pneumatologische, wonach der Heilige Geist in die Herzen der Gläubigen gesandt wird. Darin besteht das Geheimnis der Kirche.

    Für eine solche pneumatologische Ekklesiologie lehrt das II. Vatikanum, daß die folgende Analogie zur Menschwerdung des Sohnes bestehe: "Wie nämlich die angenommene Menschennatur dem göttlichen Wort als lebendiges Heilsorgan unlöslich verbunden ist und ihm dient, so dient auf nicht unähnliche Weise das gesellschaftliche Gefüge der Kirche dem Geist Christi, der es belebt, zum Wachstum seines Leibes." (Lumen gentium, Nr. 8,1) Zwischen dem "gesellschaftlichen Gefüge" von Kirche und dem Heiligen Geist besteht ein ähnliches Verhältnis wie zwischen der menschlichen Natur Jesu und dem Logos. Während in der Menschwerdung des Sohnes der Logos sich einer individuellen Menschennatur verbindet und selbst ihre Person, nämlich ihren letzten Selbstbesitz, ausmacht, verbindet sich der Heilige Geist als einendes Band einer Vielheit von bereits bestehenden Personen. Er ist ein und derselbe in Christus und in den Christen, "eine Person in vielen Personen" (H. Mühlen; vgl. II. Vatikanum, Lumen gentium, Nr. 7,7). Dabei gilt aber auch hier das chalkedonensische "ohne Trennung" und "ohne Vermischung" für die Vereinung göttlicher und geschaffener Wirklichkeit: Beide bleiben voneinander unterschieden, werden aber durch die Beziehung eines göttlichen Selbstbesitzes unlöslich miteinander verbunden. Während bei Christus von einer "unio hypostatica" zu sprechen ist, könnte man bei der Kirche in Analogie dazu den Begriff einer "unio secundum hypostasim" bilden (H. Mühlen). Denn wie bei der Menschwerdung des Sohnes, so handelt es sich auch bei der "Kirchewerdung" des Heiligen Geistes nicht um ein bloßes Wirken Gottes "nach außen", sondern um das Hineingenommensein geschöpflicher Wirklichkeit in das Leben Gottes. Das "ohne Vermischung" und "ohne Trennung" besagt für die Kirche: Ähnlich wie man Jesus sein Gottsein nicht ansehen kann, sondern es nur aufgrund seines Wortes glauben kann, ist die Gegenwart des Heiligen Geistes in der Kirche allein im Glauben erkennbar.

    Die gleichen Kategorien des "ohne Vermischung" und "ohne Trennung" gelten dann auch für das grundsätzliche Verhältnis von Glaube und Vernunft. "Auch dies hat die katholische Kirche in Übereinstimmung stets festgehalten und hält es fest: Es gibt eine doppelte Ordnung der Erkenntnis, unterschieden nicht nur nach der Erkenntnisfähigkeit, sondern auch dem Gegenstand nach. Unterschieden nach der Erkenntnisfähigkeit: Weil wir in der einen Erkenntnisordnung mit natürlicher Vernunft, in der anderen mit göttlichem Glauben erkennen; unterschieden nach dem Gegenstand, weil uns über das hinaus, was natürliche Vernunft erreichen kann, in Gott verborgene Geheimnisse zu glauben vorgelegt werden, die nie in den Bereich unseres Erkennens gelangten, wenn sie uns nicht von Gott geoffenbart wären." (I. Vatikanum, DS 3015)

    In der hier vorausgesetzten Unterscheidung zwischen natürlicher Vernunft und göttlichem Glauben oder auch allgemein zwischen Natur und Gnade handelt es sich keineswegs um ein Denken in zwei Stockwerken, die sich additiv zueinander verhielten. Es geht vielmehr um ein und denselben Menschen, dessen Geschöpflichkeit als solche bereits im voraus zum Glauben erkannt werden kann, während die Tatsache, daß er in die Liebe des Vaters zum Sohn hineingeschaffen ist, allein dem Glauben selbst zugänglich sein kann. Die Unterscheidung zwischen Glauben und Vernunft besagt, daß man den Glauben weder auf die Vernunft zurückführen noch umgekehrt mit Vernunft widerlegen kann. Ihre In-Beziehung-Setzung bedeutet, daß der Glaube sich in jeder Prüfung durch die Vernunft als das letzte und umfassende Wort auch über die Vernunft selbst bewährt. Ausgeschlossen ist damit jede Vermischung, als könne man den Glauben aus der Vernunft herleiten. Ebenfalls ausgeschlossen ist jede Form von Trennung, in der sich der Glaube der Prüfung durch die Vernunft entziehen wollte; er würde damit sofort der Vermischung mit Aberglauben anheimfallen.

    Das chalkedonensische Dogma will überhaupt als Schlüssel zum sachgemäßen Umgang mit der Heiligen Schrift verstanden werden. Völlig mißverstanden wäre das Dogma, wenn man es als Ersatz für den Umgang mit der Heiligen Schrift verstehen wollte anstatt als Hinführung zum rechten Umgang. Es gibt der Exegese als Problembewußtsein vor, daß alle Aussagen über Jesus Christus streng zwischen dem zu unterscheiden haben, was von ihm dem Wissen zugänglich ist, und dem, was nur geglaubt werden kann. Dem Wissen zugänglich ist seine historische Existenz als Mensch und die Existenz seiner Botschaft. Die Wahrheit seiner Botschaft und damit seine Gottessohnschaft ist nur dem Glauben zugänglich. Seine Gottessohnschaft kann nur im Glauben überhaupt erfaßt werden, nämlich so, daß man sich selbst mit ihm und um seinetwillen von Gott mit einer Liebe geliebt weiß, die an nichts Geschaffenem, sondern an ihm als dem Sohn ihr Maß hat. Ebenso ist die Wahrheit seiner Auferstehung nur dem Glauben zugänglich. Sie ist ja identisch mit seiner Gottessohnschaft angesichts seines Todes: Den Gekreuzigten als den Sohn Gottes bekennen heißt ihn als den Auferstandenen bekennen.

    Nur im Licht des chalkedonensischen Dogmas lassen sich auch die neutestamentlichen Wunderberichte sachgemäß interpretieren. Wunder sind Ereignisse in der geschichtlichen Wirklichkeit, die dem Wissen zugänglich sind und sich als solcherart erweisen, daß man ihnen außerhalb des Glaubens nicht gerecht werden kann. Aber erst im Glauben werden sie als Geschehen der Selbstmitteilung Gottes erfaßt. Wunder im Sinn der christlichen Botschaft sind: das Geschehen des Wortes Gottes, die in ihm begründete Gemeinschaft der Glaubenden und schließlich jedes Geschehen selbstloser Liebe, das im Wort Gottes seine Wurzel hat.
Auch die Sakramente als Realsymbole des Heils lassen sich nicht anders als im Sinn der chalkedonensischen Unterscheidung und In-Beziehung-Setzung von göttlichem Heil und geschaffener Wirklichkeit verstehen. Es handelt sich auch in den Sakramenten nicht um eine "direkte", sondern um eine "paradoxe Identität" von göttlicher und geschöpflicher Wirklichkeit; sie wird allein durch das Wort allein im Glauben erkannt.

    Unsere ganze Überlegung läßt sich als Kommentar zu einer berühmten Regel der Geistlichen Übungen von Ignatius v. Loyola zusammenfassen, die erst vom chalkedonensischen Dogma her verständlich wird. In dieser Regel heißt es: "Wir müssen immer festhalten, um in allem das Rechte zu treffen: Von dem Weißen, das ich sehe, glauben, daß es schwarz ist, wenn die hierarchische Kirche es so bestimmt, indem wir glauben, daß zwischen Christus unserem Herrn, dem Bräutigam, und der Kirche, seiner Braut, der gleiche Geist ist, der uns leitet und lenkt zum Heil unserer Seelen. Denn durch den gleichen Geist und unseren Herrn, der die Zehn Gebote gegeben hat, wird gelenkt und geleitet unsere heilige Mutter Kirche." (Geistliche Übungen, Nr. 365)

    Es geht in dieser Regel um etwas, was "immer", nämlich von überhaupt allen Glaubensaussagen gilt. Es soll nicht etwa unsere Vernunfterkenntnis für bloßen Schein ausgegeben werden, um sie durch den Glauben zu ersetzen. Die Vernunft erkennt in der Weise eines wirklichen Sehens, und dieses Sehen wird keineswegs dementiert. Aber alle Glaubensaussagen haben diese Struktur: Von einer tatsächlich gesehenen Wirklichkeit, die unseren Sinnen zugänglich ist, wird im Glauben etwas unter seinem Gegensatz Verborgenes ausgesagt. Man sieht den Gekreuzigten und glaubt den Auferstandenen. Man sieht eine Kirche von Sündern und glaubt an die Gegenwart des Heiligen Geistes in dieser selben Kirche. Das kann man nur aufgrund der Verkündigung eben dieser Kirche. Diese Verkündigung lehrt für alle Zeiten das rechte Unterscheiden und In-Beziehung-Setzen von Gott und Welt im Unterschied zu jeder Form von Weltvergötterung oder Verzweiflung an der Welt.

 


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